1. Mai

Aufgrund des Feiertags und des schönen Wetters entschließe ich mich spontan, einen lange aufgeschobenen Besuch in Regensburg nachzuholen. Die Abfahrtszeiten der Züge haben sich aufgrund des Fahrplanwechsels geändert, ansonsten kann ich aber die Haltestellen im Schlaf herunterbeten - Neumarkt, Parsberg und... der Zug wird immer langsamer und fährt vor der nächsten Haltestelle nur noch im Schritttempo weiter. In Beratzhausen hält der Zug schließlich anstatt an Gleis 1 an Gleis 3. Die Minuten ziehen sich. Schließlich eine Durchsage: "Die Strecke vor uns ist gesperrt. Eine Weiterfahrt erfolgt frühestens in einer Stunde." Unter den Mitreisenden bricht Unruhe aus. Ein Mann im Sitz vor mir diktiert, bemüht Hochdeutsch sprechend, in sein Smartphone: "Ich sitze hier am Bahnhof Beratzhausen fest. Kannst du mich am Bahnhof abholen?" Ich bin unschlüssig, was ich tun soll, um in absehbarer Zeit nach Regensburg zu kommen. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fährt der Regionalexpress nach Nürnberg ein. Nach Nürnberg zurückfahren? Nein, das ist Blödsinn. Die Regionalbahn, die in etwa 20 Minuten abfährt, scheint aber im DB Navigator bis Regensburg problemlos durchzukommen. Der Mann vor mir steht auf und frägt halblaut in das Abteil: "Ich fahre mit dem Taxi weiter. Will jemand mitkommen?" Der Mann ist etwas älter, trägt graues Haar, ein verwaschenes T-Shirt und hat einen verschmitzten Gesichtsausdruck. Ein weiterer Mitreisender, Typ Gymnasiallehrer mit Brille und einer Tasche im A0-Format, und ich schließen uns an und nicken dem Fragenden zu. Auf der Treppe in die Unterführung bewegt sich ein ganzer Pulk aus Passagieren mit uns mit. Wir erreichen Gleis 1 vor dem Bahnhofsgebäude, stehen in der Sonne zusammen und warten auf Peter, den Taxifahrer. "Maximal 30 Minuten, er wohnt in Burgweinting und ist gleich da", versucht uns unser Reiseleiter zu beruhigen. Die gestrandeten Passagiere kommen aus allen möglichen Ecken - Aachen, Freising, ... Hie und da ein kurzes Gespräch, Lachen, dann werden wieder die Smartphones befragt, aber der Zug auf Gleis 3 bewegt sich nicht. Über den Bahnsteig verteilt sitzen Reisende in Grüppchen auf dem Boden. Wir fragen den Zugbegleiter der Bahn, was passiert ist. "Ein Güterzug hat mit dem Stromabnehmer die Oberleitung mitgenommen, so dass diese abgerissen ist... das wird noch mindestens zwei Stunden dauern. Das Einsatzteam für die Reparatur muss erst aus München anfahren..." "Ich muss heute noch nach Nürnberg zurück. Hoffentlich klappt das." Im Gespräch stellen wir aber schnell fest, dass ich auch über Schwandorf nach Nürnberg zurückfahren könnte. Auf dem Gleis gegenüber taucht nun die Regionalbahn der agilis auf, die aber auch nur bis Undorf weiterfährt. Wir warten weiter auf Peter, die Sonne wird unangenehm heiß, so dass wir uns in den Schatten stellen. Das Gespräch tröpfelt dahin und dreht sich um reichlich absurde Themen; im Mittelpunkt steht dabei die spezielle Freundschaft zwischen unserem Reiseleiter und Peter, dem Taxifahrer. Ich schalte mich kaum ein, und wenn doch, werden meine Ausführungen nur mit wenig Aufmerksamkeit bedacht. Peter ist verspätet. Nach einem weiteren Telefonat mit Peter erklärt unser Reiseleiter, dass dieser noch 15 Minuten brauche. Um kurz nach 15 Uhr fährt endlich das Taxi von Peter vorbei. Wir laufen im Stechschritt zur Straße, dem Taxi hinterher. Im Hintergrund höre ich noch die Durchsage von einem Baum, der auf die Gleise gefallen sei. Wir steigen ein. "Die Uhr brauchen wir doch nicht, oder? Jeder von euch einen Zehner, ist das in Ordnung?" "Ja!" Wir fahren los. Da unser Reiseleiter durstig ist, muss Peter noch ganz kurz an der Tankstelle in Beratzuhausen anhalten, bis er wieder mit zwei Flaschen Bier in der Hand einsteigt. Peter ist während der Fahrt recht schweigsam, legt aber ein ordentliches Tempo vor. Die Landschaft hinter Regensburg gleitet an den Fenstern vorbei - Laaber, Nittendorf, Sinzing, die Donaubrücke ("Hier habe ich mal gewohnt!" sage ich auf der Donaubrücke zu meinem Nachbarn auf dem Rücksitz und deute nach rechts auf die unter uns dahinfließende Donau, "vier Kilometer entfernt, am Golfplatz Minoritenhof, direkt an der Donau!"), der Fernsehturm. Regensburg ist in Sichtweite. Schließlich setzt uns Peter vor den Arcaden ab, wir nehmen unsere Sachen aus dem Kofferraum, zahlen und verabschieden uns. Danach geht jeder seiner Wege, ohne sich umzudrehen. Nach meinen Besorgungen am Hauptbahnhof schnappe ich mir einen eScooter und fahre durch die übervolle, laute und hektische Innenstadt Richtung Norden; es herrscht der übliche Trubel an einem Feiertag. Hinter der Kreuzung an der Protzenweiherbrücke stelle ich den eScooter ab; es geht zu Fuß weiter, hinauf zur Dreifaltigkeitskirche und den dahinter liegenden Friedhof. Die Fotos, die ich nach dem Anstieg aufnehme, misslingen. Ich ziehe weiter und stehe wieder vor der blank polierten Platte des Urnengrabs, die im Gegensatz zum letzten Besuch nicht zugewachsen ist. Ich hole das Gebinde mit den zwei weißen Rosen, die ich am Bahnhof erstanden habe, aus dem Rucksack und lege sie daneben. Anschließend zünde ich eine Grabkerze an und stelle sie vor die Platte. Ich halte innne. 

Der Schmerz, die Trauer und die Hilflosigkeit, sie sind immer noch da. Genauso wie die Tränen.    

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